Außerdem muss die Frage diskutiert werden, wie zuverlässig die Messwerte bei Kindern mit reduzierter Aufmerksamkeit generell sind und ob sie bei einer Messdauer von ca. 20 Minuten hinlänglich genaue Daten liefern. Vermutlich kann die Frage ganz simpel mit „Nein“ beantwortet werden, zeigt doch die Erfahrung, dass bei kurzen Aufmerksamkeitsspannen die Unbrauchbarkeit (Unschlüssigkeit) von Messwerten für sich schon ein wichtiges Kriterium für die Einstufung des „Visuellen Status“ eines Kindes ist.
Um dennoch eine wenigstens qualitative Annäherung an das Problem zu erreichen, wurden aus den 200 Fällen die Messdaten, welche die Akkommodation betreffen, herausgezogen und verglichen.
Kinder (5-13J.)
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N
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Nahskiaskopie
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Akk.-breite
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pos.rel.Akk.
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neg.rel.Akk.
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Ritalin
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Zappelin
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OEP
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5
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19
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20
|
21
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|||
allg.vis. Defizite
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184
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Ø +1,20
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Ø 4,64
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Ø -2,67
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Ø +1,66
|
||
AD(H)S
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16
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Ø +1,49
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Ø 4,55
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Ø -1,98
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Ø +1,55
|
5
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2
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Der Vergleich zeigt, dass Kinder mit ADS / ADHS weniger akkommodieren und weniger Akkommodationsreserven haben. Dieses Ergebnis war zu erwarten, da die Akkommodation (=Identifikation, 3.Kreis von Skeffington) durch Aufmerksamkeit und „Zentriertheit“ stimuliert wird.
Es ist aus der praktischen Erfahrung bekannt, dass „Low Achiever“ ganz allgemein vor dem VT kein Gespür für scharf/unscharf haben, was sich auch darin widerspiegelt, dass die blur-points nach dem VT scheinbar niedriger sind als zuvor, obwohl alle anderen Messwerte verbessert sind! Auch in den Anamnesen zeigt sich, dass solche Kinder häufig kein gutes Verständnis von scharf und unscharf oder deutlich und undeutlich haben. Ein Unterschied zwischen AD(H)S- und anderen Leselernproblemen hat sich hier nicht gezeigt.
Die Abweichungen der Messwerte in den beiden Gruppen führen für sich allein sicher nicht zu einer unterschiedlichen inhaltlichen Vorgehensweise im VT. Allerdings scheinen hyperaktive Kinder an einem ständigen Zusammenbruch ihrer Figur-Grund-Wahrnehmung (Stimulus-Background) zu leiden, was ein VT in unruhiger Umgebung fast unmöglich macht. Häufig ist alleine die Anwesenheit der Mutter (trotz einiger Entfernung) Anlass genug, ständig die Aufmerksamkeit zu verlieren und den „Stimulus Üben“ in den „Background“ zu verdrängen. Außerdem muss dabei darauf geachtet werden, wenig zu reden und vor allem nur mit dem trainierenden Kind. Sehr kurze Spannen intensiven Trainings müssen sich abwechseln mit etwas längeren Pausen, die beispielsweise mit dem Aufzeichnen (aufschreiben oder aufmalen) der Übung verbracht werden.
Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), auch als Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom bezeichnet, ist eine bereits im Kindesalter beginnende psychische Störung, die sich primär durch leichte Ablenkbarkeit und geringes Durchhaltevermögen, sowie ein leicht aufbrausendes Wesen mit der Neigung zum Handeln ohne nachzudenken auszeichnet.
Nach derzeitigem Forschungsstand (Sommer 2006) ist von einer multifaktoriellen Verursachung von ADHS auszugehen, also dem Zusammenwirken mehrerer Faktoren. Bei ca. 50% der darauf untersuchten ADHS-Betroffenen besteht eine genetisch bedingte Anormalität der neuronalen Signalverarbeitung im Gehirn. Davon sind insbesondere neuronale Regelkreise betroffen, die für die Regulation bzw. das Zusammenwirken von Motivation, Kognition, Emotion und dem Bewegungsverhalten verantwortlich sind. Da das Frontalhirn und das Striatum in diesen Regelkreisen eine bedeutende Rolle spielen, spricht man auch von einer Striatofrontalen Dysfunktion. Diese ist zu einem Teil vererbt, eventuell aber auch pränatal, also während der Schwangerschaft, erworben. Geschwister von ADHS-Kindern haben 3 – 5 mal so häufig ADHS wie Nicht-Geschwister; die biologischen Eltern von ADHS-Erkrankten sind in etwa 18 Prozent der Fälle ebenfalls betroffen. (Quelle: Wikipedia)
Man vermutet, dass eine Überstimulation des Kleinkindes und starke Kritik auch zu ADHS führen können. (Taylor, 1994; Carlson, Jacobvitz, und Sroufe, 1995)
Die wissenschaftliche Auffassung über Entstehung, Wirkungsweise und Therapiemöglichkeiten zeigt ein breites Spektrum und scheint einem dynamischen Wandel zu unterliegen. Wie auch immer die endgültige Klärung aussehen mag, in der Praxis erleben wir hyperkinetische Kinder als fast permanent reizüberflutet. In der 1:1-Situation im VT sind sie durchaus lernwillig und -fähig, wenngleich durch kurze Aufmerksamkeitsspannen geprägt. Die Verbesserung der visuellen Fertigkeiten ist genauso möglich wie bei normal kinetischen Kindern. Ebenso beobachtet man die üblichen positiven Veränderungen in ihrer Organisation und im Sozialverhalten.
In Fällen der Eliminierung von AD(H)S durch optometrisches Visualtraining muss – analog zu eleminierter Legasthenie – die ursprüngliche Diagnose in Frage gestellt werden.
Immer häufiger erscheinen bei Funktionaloptometristen AD(H)S-Kinder, die mit Ritalin behandelt werden.
Ritalin besteht aus dem Wirkstoff Methylphenidat und unterliegt wegen seiner Wirkungsweise dem Betäubungsmittelgesetz.
Methylphenidat hemmt die Wiederaufnahme von Dopamin und Noradrenalin in die präsynaptischen Neuronen und erhöht so deren Konzentration im synaptischen Spalt. Dies führt zu einem erhöhten Signalaufkommen an den postsynaptischen Rezeptoren, und unter anderem zu einer Erhöhung des Sympathikustonus.
Für die Wirkung von Methylphenidat bei ADHS gibt es unterschiedliche Auffassungen: Bestimmte Bereiche im frontalen Gehirn, die u.a. Impulse kontrollieren, sind weniger aktiv und werden durch Ritalin so angeregt, dass das Gehirn seine Kontrollfunktionen besser wahrnehmen kann. Eine weitere Hypothese besagt, Menschen mit ADHS zeigen eine erhöhte Anzahl und Aktivität von sog. Dopamin-Transportern.
Über die exakte Funktionsweise der paradoxen Wirkung eines stimulierenden Medikamentes auf hyperaktive Menschen, sowie über Nebenwirkungen und Suchtrisiko gibt es offenbar wenig wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse und die Auffassungen darüber gehen extrem auseinander. Aus der praktischen Arbeit heraus ist die These einleuchtend, dass bei manchen Kindern Hyperaktivität nötig ist, um sich selbst wahrzunehmen. Diese Selbstwahrnehmung würde durch die stimulierende Wirkung von Ritalin® so verbessert, dass die motorische Überaktivität überflüssig ist und während der Wirkungsdauer des Methylphenidats zur motorischen Unteraktivität führt.
In der Funktionaloptometrie ist es gängige Auffassung, dass bei Ritalin-Einnahme ein VT nicht erfolgreich ist. Da keine wissenschaftlichen Ergebnisse darüber vorliegen, muss eine Annäherung durch praktische Erfahrung erfolgen. An zwei Fallbeispielen soll gezeigt werden, ob und wie das optometrische Visualtraining durch Ritalin® beeinflusst wird:
Stefan war motorisch unruhig, zeigte eine schlechte Konzentrationsfähigkeit und ein sehr problematisches Sozialverhalten in der Schule. Es wurde ADS diagnostiziert. Er wurde im April 2004 im Alter von 9 Jahren auf Anraten eines Kinderpsychologen zur Visuellen Analyse vorgestellt. Er wurde bereits mit dem homöophatischen Medikament Lycopodium behandelt, das seine Konzentrationsfähigkeit steigern sollte. Er trug eine ärztlich verordnete Brille bei schwacher Hyperopie mit Astigmatismus rectus und erreichte Visus 1.0 (mit und ohne Korrektion).
In der Anamnese fiel auf, dass er sehr unruhige Blickbewegungen macht, sein Gegenüber nicht genau fixiert und ständig in Bewegung ist. Er zeigte sehr schlechte Blickfolgebewegungen in allen Richtungen und starke „undershoots“ bei den Saccaden. Der Lang-Stereo-Test gelang verzögert, der Konvergenznahpunkt unterlag Schwankungen und lag im Mittel um 20cm. Die OEP-Messungen ergaben auffällige „Recovery-Werte“ um Null. Sein van-Orden-Stern zeigte Eso-Stellung mit starker Höhenabweichung (Abb.2), die allerdings in der Messung nicht gefunden wurde.
Abb.2 Stefans van-Orden-Stern bei der Visuellen Analyse
Wegen der anhaltenden Schulprobleme (bezüglich seines Verhaltens) wurde mit der Medikation mit Ritalin® begonnen. Fast spontan verschlechterte sich sein van-Orden-Stern; er geriet mehr nach Eso und wurde unstrukturierter, der Horizont ging nach unten (Abb.3). An dieser Stelle wurde im Oktober 2004 das VT vorläufig beendet und es wurde eine weitere Beobachtung über den Verlauf vereinbart. Die Übungen sollten wie gewohnt noch über 4 Monate zweimal pro Woche wiederholt werden.
Abb.3 Deutliche Verbesserung des v.-O.-S. bis zur 8. Sitzung (oben) und die spontane Verschlechterung nach Beginn der Ritalin®-Medikation (unten)
Im Februar und April 2005 wurde jeweils eine kurze Kontrolle durchgeführt, wobei sich zeigte, dass der van-Orden-Stern unter Ritalin® deutlich weniger strukturiert war (Abb.4), die Cheiroskopie zeigte sich tadellos (Abb.4a). Etwa zu diesem Zeitpunkt wurde von einem Orthopäden ein Kiss-Syndrom diagnostiziert und kraniosakraltherapeutisch behandelt. Zur Stabilisierung seiner visuellen Werte sollten Folgebewegungen und Vergenzübungen noch für eine Weile wiederholt werden.
Im Mai 2006 wurde Stefan erneut vorstellig, da er seit einigen Wochen wieder über Diplopie klagte (auch in der Ferne), was ihn speziell beim Fußball spielen behinderte. Er nahm noch immer Ritalin® in geringer Dosierung ein. Sein van-Orden-Stern war unverändert (Abb.5). Das Visualtraining wurde nicht wieder aufgenommen.
Abb.4 v.-O.-S. an einem Ritalin®-freien Tag (oben) und nach Ritalin®-Einnahme (unten)
Abb.4a Makellose Cheiroskopie unter Ritalin®
Abb.5 v.-O.-S. ein Jahr nach VT-Ende bei regelmäßiger Ritalin®-Einnahme
Henrik wurde im Oktober 2006 im Alter von 8 Jahren auf Anraten seiner Lerntherapeutin vorgestellt. Von seinem Kinderarzt und einem sozialpädiatrischen Zentrum wurde ADS diagnostiziert und Ritalin verordnet. In der Anamnese wirkte er introvertiert, fast apathisch und sprach sehr leise. Beim Lesetest wirkte er motorisch unruhig, las bei stark wechselndem Abstand mit Fingerhilfe buchstabierend (ca. 1 Wort/Minute) ohne Sinnerfassung und hatte kein Bewusstsein von „scharf“ oder „unscharf“ und „einfach“ oder „doppelt“. Seine Blickfolgebewegungen waren sehr schlecht, die Saccaden stark unregelmäßig und ungenau, der Cover-Test ebenso und der Konvergenznahpunkt schwankte zwischen 5 und 10cm. Die OEP-Messungen ergaben keine Fehlsichtigkeit mit einem freien Visus von 1,1, eine starke Nahexophorie (14 cm/m), schlechte Recovery-Werte (in der positiven Fusionsreserve Nähe erst bei -6cm/m!) und eine Akkommodationsbreite von 4 dpt. Sein van-Orden-Stern war typisch „Low Achiever“ (Abb.6).
Abb.6 Henriks v.-O.-S. bei der Visuellen Analyse
Trotz der Vorbehalte gegen ein VT bei Ritalin®-Einnahme wurde ein Training vereinbart und sofort begonnen.
Die Mutter wurde gebeten zu beobachten, ob der Trainingsverlauf zuhause davon abhängt, wie lange die letzte Tabletteneinnahme zurückliegt. Sie konnte keine signifikanten Unterschiede feststellen. So war der Fortschritt bei den Fusionsherzen mit und ohne Ritalin® etwa gleich groß, eher etwas besser mit Ritalin®.
Der Trainingserfolg kam ungewöhnlich langsam, der van-Orden-Stern stagnierte ab der vierten Trainingssitzung weitgehend (Abb.7). Gleichwohl konnte eine deutliche Verbesserung der Leseleistung und – mit starken Schwankungen – der Konzentrationsfähigkeit beobachtet werden. Der Trainingserfolg war deutlich aber gravierend unter den üblichen Erfahrungswerten bei vergleichbaren visuellen Problemen.
Abb.7 Keine Verbesserung des v.-O.-S. nach dem 4. VT
Eine Auffälligkeit im van-Orden-Stern der beiden Jungen muss noch geklärt werden: nach anfangs verbesserter Struktur und weitgehendem zentralen Schluss der linken Hälfte zeigte sich bei Henrik schon sehr früh und bei Stefan ab Beginn der Ritalin®-Medikation ein teilweises Öffnen der rechten Hälfte. Bei Stefan geschah das überwiegend für die Ferne, bei Henrik abwechselnd für Ferne und Nähe und zwar abhängig vom Zeitpunkt der letzten Tabletteneinnahme. Während der Osterferien hatte er einmal die Einnahme vergessen und zeichnete bei der VT-Sitzung am Nachmittag einen ganz anderen Stern (Abb.8). Es drängt sich der Gedanke auf, dass durch Ritalin® die Identifikation und vor allem die Visualisation (3. und 4. Kreis von Skeffington) beeinträchtigt werden, was gleichzeitig den langsamen Trainingserfolg (mit)erklären würde. Henrik wird auch von seiner Mutter als unter Ritalin® lustlos, phantasielos und gelangweilt beschrieben. Ähnliche Beschreibungen finden sich in der Literatur. Da dieses „Syndrom des Visualisationsverlustes unter Psychopharmaka“ bisher nicht beschrieben ist, wäre es wünschenswert, dass eine breiter angelegte Studie, z.B. im Rahmen einer Diplomarbeit, dieses unter wissenschaftlichen Kriterien abklärt.
Abb.8 Henriks v.-O.-S. 3 Std. nach Ritalin®-Einnahme (oben) und an einem Ritalin®-freien Tag (unten) nach 4 Monaten VT